Gewinnen und verlieren

Liebe Mitchristen!
Wie kann Jesus von mir verlangen, ihn mehr zu lieben als meine eigene Frau, meine Kinder, und meine Eltern?
Wäre das nicht geheuchelt, wenn wir behaupten würden, Gott ist uns wichtiger als alles andere? Gesundheit und die Familie sind doch das Wichtigste. Was ist das überhaupt für ein Gott, der so radikale Forderungen stellt? Und was ist mit denen, die von vornherein sagen: Das kann ich nicht.
Schauen wir genauer hin, was steht da eigentlich genau?
Jesus sagt zu seinen Aposteln, wohlgemerkt: Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert."
Und dann ein ganz eigenartiger Satz: "Wer das Leben findet, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es finden."
Ist das nicht eine Umkehrung unserer Lebenseinstellung, wir wollen doch das Leben gewinnen, es genießen, gut leben, reich werden und glücklich.
Warum sollen wir es dadurch verlieren?
Das ist wieder einmal typisch christlich, wird sich der eine oder die andere danken, nichts darf man, was lustig, schön und angenehm wäre. So ein trauriger Verein.
Gesagt und aufgeschrieben wurden diese Worte allerdings für den kleinen Apostelkreis, die bereit waren in Jesu Fußstapfen zu treten und als Wanderprediger seine Botschaft weiter zu tragen!
Die Frage, die hinter diesen Aussagen Jesu für uns stehen könnte, heißt:
"Was ist eigentlich wichtig in meinem Leben?"
Auf diese Frage spitzt sich so manches in unserem Leben zu, vor allem in Krisenzeiten, in Entscheidungssituationen. Da würden wir oft viel geben, für eine 100% richtige Entscheidung. Da wäre eine gute Fee hilfreich, bei der man drei Wünsche frei hat.
Wer furchtbar gestresst ist, wünscht sich eine unbeschwerte Freizeit. Vor Prüfungen wünschen sich so manche Jugendliche ein gutes Durchkommen. Wieder andere wären glücklich, endlich wieder Arbeit zu haben, die sie jetzt durch die Coronakrise verloren haben. Wer schon einmal um sein Leben gebangt hat, oder das Leben eines lieben Menschen, der weiß: Je existentieller die Not ist, um so bescheidener werden die Ansprüche. Viele Sorgen werden unwichtig, wenn das Leben auf dem Spiel steht. Ich habe das beim Sterben meines Vaters und meines Bruders erlebt.
Um so unverständlicher ist für uns, dass Jesus genau die Dinge herausgreift, die uns am wichtigsten sind - Eltern, Kinder, Familie - aber es besteht kein Zweifel: Jesus sagt, es gibt etwas, was noch wichtiger ist, als alles was dir jetzt lieb ist im Leben. Wenn du all das versuchst krampfhaft festzuhalten, dann wirst du nicht verstehen, was ich eigentlich will.
Das wäre ungefähr die Übersetzung des Satzes: "Ist meiner nicht wert."
Zwei Begriffe sind es, die in diesem Zusammenhang wichtig sind:
Festhalten und Loslassen. In einer alten jüdischen Schriftauslegung heißt es:
"Wenn der Mensch geboren wird, hat er die Hände zusammengeballt, so, als wollte er sagen: Ich erobere die Welt. Wenn er stirbt, dann sind seine Hände geöffnet, als wollten sie sagen, ich habe nichts zurückbehalten, alles gehört dir, Gott!"
Unser Leben spielt sich zwischen diesen beiden Polen ab. Greifen und zupacken ist das, was wir zuerst lernen müssen, um unser Leben in den Griff zu bekommen. Aber auch das Loslassen übt schon das Kind, wenn es das, was es unbedingt möchte, nicht bekommt.
Je älter wir werden, desto mehr verlagern sich die Schwerpunkte. Wir müssen von Idealvorstellungen loskommen, Gegebenheiten anerkennen, uns von Vorurteilen trennen und liebgewordene Gewohnheiten oder Selbstverständlichkeiten aufgeben (z.B. immer gesund und fit zu sein, oder den Partner/Partnerin ändern zu können...).
Und am Ende müssen wir schließlich unsere Beziehungen zu den anderen und unser eigenes Leben loslassen, wir können es nicht festhalten.
Jesus setzt in diesem Spannungsfeld einen eindeutigen Akzent, wenn er von "Gewinnen" und "Verlieren" spricht.
Es geht nicht nur um das äußere Zupacken oder Loslassen. Es geht darum dem Leben in beiden Aktivitäten eine innere Richtung zu geben. Und die besteht für Jesus im Leben für andere.
Wer sich darauf einlässt, wird um der Liebe willen immer wieder auf ein Stück eigenes Leben verzichten müssen, der wird erleben dass dieses Loslassen, auch viel Überwindung und Kraft kostet, das ist das tägliche Kreuz, das Jesus meint. Aber er wird auch erleben, dass das alles nicht umsonst ist, und auch sehr zufrieden machen kann.
Täglich sein Kreuz auf sich nehmen bedeutet sicher nicht, dass ich krampfhaft was suchen muss, was mir mein Leben schwer macht.
Aber es könnte heißen, täglich mein Leben anzuschauen und zu sagen: So ist es geworden mit allen Höhen und Tiefen, ich will es annehmen und offen bleiben für das, was auf mich zukommt, auch wenn es schwer ist, aber ich darf mein Leben auch lieben und genießen, jeden Tag neu.
So könnte Jesus seine Rede gemeint haben, kurz bevor er seine Apostel aussendet zu den Menschen, um ihnen die Botschaft vom Reich Gottes zu bringen.
Nachfolge beginnt, wo jemand trotz vieler Hindernisse den Weg des Friedens geht, wo jemand Liebe und Wärme geben kann, obwohl er nicht auf der Sonnenseite steht, wo jemand menschlich bleibt, obwohl die Umgebung unmenschlich ist.
Aber nicht aus lästiger Pflicht, sondern weil es in uns Menschen ein tief verwurzeltes, vielleicht sogar angeborenes Verhalten gibt, unser Leben auch zugunsten anderer zu leben und damit es auch im biblischen Sinn hinzugeben.
Ich wünsche uns allen viel Freude und Kraft auf diesem Weg.
Amen.